Die Fluglotsen des Bodens: Wie timed sich eine Airline?
Shownotes
„Ein großes Uhrwerk, das ineinandergreift“, so beschreiben Andreas Bäuerle und Michael Mühleck die Flugverkehrsplanung im HOC, dem Hub Operations Center von Lufthansa in München. Als Heads of Operations Control & Dispatch Lufthansa Airlines München und CityLine sind die beiden und ihr Team rund um die Uhr damit beschäftigt, den minutiös getakteten Flugbetrieb am Laufen zu halten und sofort auf Störungen zu reagieren. Von der Flugplanung in der Verkehrszentrale bis zur Bodenabfertigung eines Fliegers muss alles aufeinander abgestimmt sein. Aircraft Loading Supervisorin Nicole Gerlach schildert, wie der Arbeitsalltag auf dem Rollfeld aussieht. Auch wenn der Tag manchmal um 4 Uhr morgens losgeht, liebt sie ihren Job als Ramp Agent: „Dann stehst du an der Nase vom Jumbo. Die vier Triebwerke gehen an, der Boden vibriert unter dir. Und das ist einfach nur genial.“
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[AB] Es ist ein Verkehrssystem, das nie stehen bleibt. Letztendlich ist es ein großes Uhrwerk, das ineinandergreift, und die Kolleginnen und Kollegen, die rund um die Uhr an diesem Uhrwerk arbeiten, haben dann die Aufgabe, diese Stücke ineinanderzufügen.
[VO] Above and Beyond – der Podcast der Lufthansa Airlines. Für Einblicke in die Luftfahrt.
[LR] Den Flugbetrieb einer Airline, den kann man vergleichen mit so einem exakt getakteten Uhrwerk. Alle Räder greifen ineinander, und wenn eines blockiert, dann gerät der gesamte Ablauf durcheinander. Bei der Lufthansa laufen alle Planungen und Vorbereitungen für die Vorgänge am Boden und in der Luft in den Verkehrsleitzentralen an den Drehkreuzen Frankfurt am Main und München zusammen. Diese Schaltzentralen sind sozusagen das Gehirn der Lufthansa. Ich bin Lisa Ruhfus, und ich bin vorhin in so einem Gehirn gewesen, nämlich dem sogenannten HOC, dem Hub Operations Center in München. Und bei mir sind jetzt Andreas Bäuerle und Michael Mühleck, die beiden Heads of Operations Control & Dispatch Lufthansa und Lufthansa CityLine. Herzlich willkommen bei Above and Beyond!
[MM] Danke schön!
[AB] Vielen Dank! Hallo!
[LR] Schön, dass ihr da seid! Wir haben uns jetzt ein bisschen zurückgezogen, weil die alle sehr konzentriert natürlich gearbeitet haben dort, in so einen Konferenzraum. Ich habe aber gesehen, dass da jede Menge Monitore waren. Man konnte das Rollfeld sehen. Schöner Blick, den ihr da täglich habt! Was kann man auf diesen Monitoren alles erkennen?
[MM] Das ist vielfältig und kommt auf den Monitor, auf den wir gerade blicken, an. Das geht los von Flugplanungsinformationen, mit denen die Dispatcher arbeiten und die Flugpläne rechnen und die Spritkalkulation für die Flugzeuge produzieren. Das geht über die Verkehrszentrale, wo wir die ganzen Flugzeugrotationen sehen: Welches Flugzeug fliegt wohin, wo gibt es vielleicht Probleme, wo wir uns in den Rotationen anpassen? Das geht über den Flugzeugeinsatz, wo wir auch die Flugzeugrotation sehen, aber auch die Planungsereignisse technischer Natur, was ein Flugzeug durchlaufen muss, und wo wir versuchen, Rotation und Technikereignisse zusammenzubringen. Das geht über Crew Control, wo [wir] die Crew Rotation sehen, sehen, welche Crews auf welche Flugereignisse geplant sind, wo eine Crew krank wird, wo wir nachsteuern müssen. Wo sind die Reiseketten der Crews auseinandergerissen? Bis hin zum Supervisor oder operativen Leiter, der dann das große Ganze versucht im Überblick zu behalten.
[LR] Andreas, 30 Personen arbeiten ungefähr pro Schicht dort, insgesamt. Nachts sind das ungefähr fünf bis sechs Personen. Was sind genau deren Aufgaben?
[AB] Ja, letztendlich ist es ein großes Uhrwerk, das ineinandergreift. Und auf jedem dieser Monitore ist ein Teil dieses Uhrwerks. Die Kolleginnen und Kollegen, die rund um die Uhr an diesem Uhrwerk arbeiten, haben dann die Aufgabe, diese Stücke ineinanderzufügen. Und deswegen ist es tags und nachts auch unterschiedlich von der Besetzung, weil wir im Europaverkehr natürlich den Haupttraffic in der Tageszeit zwischen … also zu der Betriebsöffnungszeit der Flughäfen haben. Im Langstreckenverkehr und auch bei manchen europäischen … oder so was wie Kairo, Tiflis, solche langen Kurzstreckenflüge – die fliegen auch in der Nacht, die Langstrecken fliegen auch in der Nacht. Und die Kollegen haben dann die Aufgabe, je nachdem wie viel Traffic anfällt, dieses Uhrwerk zu einem Gesamtkonstrukt zusammenzusetzen, dass am Ende das Flugzeug, die Crew, die Passagiere und die Ressourcen auf dem Flughafen so koordiniert sind, dass idealerweise das stattfindet, was der Passagier mal .als Ticket gekauft hat. Also jeder arbeitet natürlich in seiner Perspektive in unterschiedlichen Systemen, aber was mir angezeigt wird, mehr oder weniger in jedem System, ist erst mal der Plan. Also ich habe einen veröffentlichten Flugplan, ich habe einen Flug gebucht, der hat eine Startzeit und eine Ankunftszeit, und das ist alles als System abgebildet. Und wenn ich eine Störung habe, zeigt mir das System sehr schnell: Wo laufe ich aus diesem Plan raus? Also wenn eine Störung eine Verspätung erzeugt, dann fängt der Flug an, seine Farbe zu ändern, damit ich sehe: Okay, dieser Flug wird so nicht mehr durchführbar sein, sondern ich muss die Zeit anfassen. Wahrscheinlich muss ich auch die Zeit der Flüge, die dahinter liegen, anfassen, um zu sehen, wie weiche ich vom Plan ab, um dann abzuleiten, welche Maßnahmen kann ich einleiten, um diesen Plan wiederherzustellen. Also ich kann bei einer Verspätung, wenn ich ein Ersatzflugzeug habe, diese Verspätung dadurch auflösen, dass ich sie nicht durchfliege, nennt sich das, dass ich dann eine Verspätung mit durch den Tag schleppe, sondern dass ich mit einem Flugzeug und einer Crew, die ich als Reserve habe, den ursprünglichen Plan aufnehme und damit die Verspätung ins Leere laufen lasse.
[LR] Was ist eure Aufgabe dann?
[MM] Eine gute Frage. Wir versuchen einmal, dieses Uhrwerk mit all diesen Zahnrädern, die ineinandergreifen, zusammenzuhalten, dass das auch funktioniert, dass alle Arbeitspositionen besetzt sind, dass die Prozesse klar sind, die Verantwortlichkeiten, alles, was an Leitungsfunktionen dann noch natürlich on top kommt – von Mitarbeitergesprächen über Einzelprobleme lösen bis hin zu Sonderereignisse koordinieren. Sei es, da bricht ein Vulkan aus; sei es, wir haben eine Streiksituation, die gelöst werden muss; sei es, wir haben einen Sicherheitsdurchbruch im Terminal, und das komplette Terminal muss im Hochsommer evakuiert werden. Da greifen wir dann mit ein und unterstützen die operativen Einheiten.
[LR] Andreas, dir ist gerade ein Sonderereignis eingefallen?
[AB] Ja, wir hatten am ersten Pfingstferientag hier jemanden, der sich auf die Startbahn oder auf den Rollweg geklebt hat.
[LR] Okay.
[AB] Auch da können wir das Uhrwerk natürlich nicht in seiner ursprünglichen Form zum Laufen bringen. Und das sind genau solche Themen, die dort dann bearbeitet werden.
[LR] Unvorhersehbare Umstände. Was ist denn für dich der Reiz an diesem Job?
[AB] Es ist ein Verkehrssystem, das nie stehen bleibt – und deswegen auch diese Rund-um-die-Uhr-Besetzung. Es ist ein weltweites System. Das findet hier aus München als Drehscheibe des Südens statt, vernetzt Kontinente, vernetzt Länder, und es ist permanent in Bewegung – selbst während Corona, als wir ich glaube bis zu 43 Passagiere am Tag runtergegangen sind, ist das nie ganz stehen geblieben. Und Gott sei Dank ging es dann auch steil wieder bergauf. Und ja, das ist, glaube ich, etwas, das nimmt man als Passagier so nicht wahr. Man sieht seinen Reiseweg von Hamburg über München nach New York, aber da läuft ein permanent sich weiterbewegendes Verkehrssystem, und man kriegt da immer einen kleinen Schnipsel davon mit oder vielleicht zwei, die irgendwie ineinandergreifen. Wenn sie nicht ineinandergreifen, dann erlebt man auch: Werde ich jetzt umgebucht, werde ich irgendwo in ein Hotel untergebracht und fliege am nächsten Tag? Dann kriegt man so einen kurzen Einblick. Aber letztendlich: Dieses System läuft rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr. Und das hat schon eine große Faszination.
[MM] Und kein Tag ist wie der andere.
[LR] Die Lufthansa hatte sich seit Aufnahme ihres Flugbetriebs schon früh einen sehr guten Ruf erarbeitet. Jedenfalls lässt die Berichterstattung vor rund 40 Jahren darauf schließen. Wir haben ein bisschen in den Archiven des Monatsmagazins „Deutschlandspiegel“ des Bundespresseamts herumgestöbert. Hier ein kurzer Ausschnitt aus dem Jahr 1985.
[Female Voice] Fast jede Minute startet oder landet irgendwo in der Welt ein Flugzeug der Deutschen Lufthansa. In der Beliebtheitsskala der internationalen Fluggäste stehen die LH-Maschinen weit oben. Gelobt werden Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Kundenservice.
[Female Voice] Zuverlässige Technik und kundenfreundlicher Service – das sind die Trumpfkarten, mit denen sich die Lufthansa nach ihrem Start vor 30 Jahren einen Platz unter den großen Fluggesellschaften der Welt gesichert hat.
[LR] Also ein gutes Zeugnis, was da der Lufthansa vor 40 Jahren ausgestellt worden ist. Damals war der Flugbetrieb vielleicht noch nicht ganz so komplex. Wie geht ihr denn vor, wenn ihr so einen Flugplan erstellt? Also was für Daten fließen da alles ein? Was müsst ihr da mit einbeziehen, Michael?
[MM] Es geht los bei meteorologischen Informationen. Also haben wir an den Start- und Landeflughäfen und auch Ausweichflughäfen passendes Wetter, dass wir da starten und landen können? Das geht über En-route-Wetter, also das Wetter entlang der Wegstrecke, haben wir da irgendwelche Gewitter zu erwarten, ungünstige Windsituationen? Dann gehen die sogenannten Notems ein. Das sind quasi die Informationen der Länder, der Flughäfen zu Besonderheiten, die beachtet werden müssen, sei es, dass eine Landebahn gesperrt ist, sei es, dass ein Anflugweg blockiert oder nicht nutzbar ist. Dann geht es über die Performance-Daten des Flugzeugs, also: Wie viel Sprit muss ich am Ende des Tages tanken? Hat das Flugzeug vielleicht irgendwelche Reparaturen oder Einschränkungen, dass es mehr Sprit braucht als im Standard vorgesehen? Technische Einschränkungen vom Flieger: Kann er bestimmte Flughöhen vielleicht nicht erreichen? Oder wenn wir zum Beispiel über den Himalaya fliegen, kann er sogenannte Escape-Routen nicht nutzen? All das muss berücksichtigt werden.
[LR] Sind das denn auch so präventive Fälle? Also gibt es da schon automatische Vorrechnungen, oder muss man das immer im Einzelfall entscheiden?
[AB] Es wird schon präventiv vorbereitet, dass man sich, sage ich mal, dass das Muster dieser Planung immer die gleiche … oder der gleichen Logik folgt. Also was ist ein Ausweichflughafen? Wenn ich jetzt nach … über den Himalaya, nach Hongkong fliege und die Frage beantwortet werden muss: Was mache ich, wenn ich in Hongkong nicht landen kann? Dann ist das natürlich ein Muster. Das muss ich bei jedem Flug beantworten, egal wo der hin stattfindet. Und wie Michael sagte, dafür muss ich natürlich einmal in München tanken. Das kann ich nicht mehr unterwegs nachtanken. Da gibt es keine Tankstelle. Sondern die Frage: Was sind die Ausweichflughäfen, wie komme ich da hin, wie ist das Wetter dort, die muss ich hier beantworten. Und das folgt natürlich einer definierten Logik, damit ich mich dann auch auf die Spezifika, wie Michael gerade angesprochen hat, konzentrieren kann: In welchem technischen Zustand ist das Flugzeug? Welche Wetterphänomene habe ich entlang der Strecke und am Zielflughafen, um am Ende eine planbare Kerosinmenge auszurechnen und auch eine planbare Zeit. Da sind wir wieder bei den verschiedenen Zahnrädern, die ineinandergreifen, zu wissen: Ja, wann findet dieser Flug statt, wann landet der, wann dreht er um und wann kommt er auch wieder zurück?
[LR] Jetzt reagiert ja so ein ausgeklügelter Flugplan sehr sensibel auf Störungen, die sich dann oft durch die Abläufe fräsen wie so eine Kettenreaktion. Was für Störungen können das sein?
[AB] Es gibt ganz viele Möglichkeiten. Jemand schneidet den Zaun auf und klebt sich auf den Rollweg – der Flughafen wird geschlossen. Das hat zum Zeitpunkt des Abflugs keiner vorhersehen können. Da war ein Flug von Singapur auf dem Weg nach München. Der soll hier morgens um sechs landen, und um halb sechs wird der Flughafen geschlossen. Dann muss der irgendwo anders hin. In dem Fall weicht der nach Wien aus, weil er sich genau mit dieser Frage schon beschäftigt hat: Was würden wir tun, wenn wir in München nicht landen können? Das kann ein Passagier sein, der kurzfristig einen medizinischen Notfall hat, und das Flugzeug landen muss, und zwar am nächstmöglichen Flughafen, der eine medizinische Versorgung anbieten kann. Auch das stellt einen Eingriff in diesen ursprünglichen Plan dar. Ich muss ihn natürlich dann umplanen und sagen: Ich bin jetzt an einem Flughafen, da hatte ich eigentlich nie vor zu sein. Wenn das ein Passagier ist, der medizinische Versorgung braucht, wird das entsprechend auf dem Boden vorbereitet. Der Passagier steigt aus oder wird von Bord genommen und das Flugzeug fliegt weiter. Dafür muss ein neuer Plan gemacht werden.
[LR] Aber das heißt, ihr bekommt quasi den Anruf: Da ist ein medizinischer Notfall, dann habt ihr direkt einen Vorschlag. Wenn auf dem Flug was passiert, leuchtet irgendein Lämpchen, und dann gibt es folgende Optionen. Muss ich mir das so vorstellen?
[AB] Es muss in dem Einzelfall – daher auch diese Rund-um-die-Uhr-Betreuung –, es muss in dem Einzelfall konkret entschieden werden: Wo ist das Flugzeug, in was für einem Gebiet befindet sich das? Wo bin ich gerade? In welchem Luftraum? Was sind da überhaupt für Alternativen? Und auch natürlich sehr eng die Kommunikation mit der Crew: Wie dringend ist die Situation? Es kann ein Passagier sein, es kann auch ein technisches Problem am Flugzeug sein. Ist das etwas, was ich nach der nächsten Landung anschauen muss, oder ist es etwas, was zu einer sofortigen Landung führt? Die Crew hat natürlich in dem Moment die Aufgabe, das Thema zu lösen. Die Verkehrszentrale schaut sich an: Wie fädeln wir dieses Flugzeug, diese Crew, diese Passagiere dann wieder in ihren ursprünglichen Weg ein? Wenn diese Situation isoliert betrachtet gelöst ist, wie geht es dann weiter?
[LR] Wie wägt man denn da ab?
[MM] Das ist aus meiner Sicht eine tagesaktuelle Entscheidung. Wann passiert das? Haben wir im Tagesverlauf noch irgendwelche Puffer im System, wo wir sagen, wir können auf jeder Flugzeugrotation eine gewisse Verspätung irgendwo abfangen oder zumindest bis zum Tagesende mit durchziehen? Oder ist dann ein Flug so viel verspätet, dass, wenn wir nicht einen sauberen Schnitt irgendwo machen, den letzten Flug des Tages in den Nightstop nicht mehr durchführen können, weil er einfach dann zu Uhrzeiten irgendwo in Frankfurt ankommen würde, wo er nicht mehr landen darf.
[AB] Der Standard ist natürlich, dass wir alle Flüge durchführen, wie sie geplant sind, und alle Passagiere so an ihr Ziel bringen, wie das ursprünglich geplant war. Natürlich ist bei so einer Störung … das ist eine Frage: Welches Übel ist das Geringste? Und auf den Passagier betrachtet: Was sind die Alternativen?
[LR] Aber es gibt wahrscheinlich auch Faktoren, die man berücksichtigen muss. Wenn es jetzt um zehn verschiedene Flüge geht, die poppen dann alle auf, und dann muss man überlegen: Okay, den kann ich nicht streichen, weil? Was könnte ein Grund sein? Oder den nicht, weil?
[AB] Genau. Also ein Punkt ist natürlich ganz wichtig: Was sind die Alternativen für die Passagiere? Wenn ich einen Flug von München nach Düsseldorf streiche, ist es sehr ärgerlich, aber ich komme da irgendwie hin. Wenn ich einen Flug von München nach Madeira streiche, dann werde ich da wahrscheinlich nicht hinschwimmen. Dieses System läuft permanent weiter. Genau der Faktor ist wichtig in dieser Entscheidungsfindung. Was bedeutet diese Entscheidung für heute, für morgen, für übermorgen? Wenn das Flugzeug auf einer Außenstation über Nacht steht und da heute nicht ankommt, wird es morgen auch nicht von dieser Station nach München fliegen und Passagiere für die Weiterflüge nach München fliegen. Also muss ich mir genau diese Faktoren anschauen und sagen: Was sind Alternativen für Gäste? Was bedeutet es heute, was bedeutet es morgen? Und natürlich ist es am Ende die Frage: Welches ist das geringste Übel, um am Ende wieder in einen geregelten Betrieb überzugehen und auch jedem Passagier eine Alternative anbieten zu können?
[LR] Welche Rolle spielen die Kolleginnen und Kollegen auf dem Rollfeld? Früher wurden die Ramp Agents genannt, heute Aircraft Loading Supervisors. Welche Rolle haben die für den reibungslosen Flugbetrieb?
[AB] Die Abfertigung auf der Rampe ist ja letztendlich das Zusammensetzen aller Puzzlestücke und Einzelteile, zielend auf einen pünktlichen Abflug. Also, ich habe „above the wing“ Passagiere, die selber einsteigen. Dazu brauche ich natürlich einen entsprechenden Prozess, dass das nach den Referenzmodellen getimt wird und dieser Einsteigevorgang entsprechend abläuft. Ich habe auf der Rampe und eben „below the wing“ die Beladung der Fracht. Ich habe die Beladung des Gepäcks. Ich habe alles, was an Service um den Flieger stattfindet: Catering, Cleaning, Fueling, alles, was so um das Flugzeug stattfindet. Und das koordiniert am Ende eine Person, die mit dem Ziel des pünktlichen Abflugs all das zusammenlaufen lässt. Und da fangen dann natürlich auch sehr viele gegenseitige Abhängigkeiten an. Wenn ich jetzt einen Passagier … das kennt jeder: „last and urgent boarding call“, ich rufe den aus, weil der fehlt und der Koffer wurde schon verladen. Der Passagier taucht nicht auf, da muss ich den Koffer wieder ausladen. Dazu muss ich ja physisch das, was in dem Bauch von dem Flugzeug schon drin ist, wieder rausholen, muss den Koffer ausladen, muss entscheiden: Wie geht das jetzt vonstatten, um trotzdem noch pünktlich abzufliegen? Und das machen die Kollegen bei Wind und Wetter.
[LR] Also die Kolleginnen und Kollegen unter den Tragflächen sind extrem wichtig für die Abläufe rund um pünktliche Starts und Landungen. Aber wie sieht der Arbeitsalltag eines Aircraft Loading Supervisors eigentlich aus? Wir haben eine Kollegin in Frankfurt am Main gefragt, die für ihren Job förmlich brennt.
[VO] Manchmal bleibt Nicole Gerlach morgens nicht einmal Zeit für einen Kaffee. Im Sommer fängt die Frühschicht der Aircraft Loading Supervisorin um vier Uhr morgens an. Am Frankfurter Flughafen herrscht dann bereits Hochbetrieb. Die 49-Jährige meldet sich zunächst bei ihrem Disponenten an, holt sich iPad, Telefon und Autoschlüssel. Alle drei Dinge braucht sie für ihren Job, den sie so beschreibt:
[NG] Ich bin zuständig für, ja, „under the wings“ vom Flugzeug. Ich schaue zu, dass das Flugzeug sicher auf Position geparkt wird, sicher beladen wird, pünktlich beladen wird und wirtschaftlich beladen wird, bis es die Position wieder verlässt.
[VO] Nicole Gerlach verschafft sich zu Schichtbeginn zunächst einen Überblick über ihre Flugereignisse: Wie viele Passagiere kommen? Sind Mobilitätseingeschränkte darunter, die einen Rollstuhl brauchen? Müssen Tiere verladen werden? Dabei kommuniziert sie immer wieder mit dem Gate, dem Piloten und der Crew sowie mit diversen Schnittstellen wie der Lufthansa-Verkehrsleitzentrale, dem Catering, dem Cleaning, dem Flughafenbetreiber und der Gebäudesicherheit. Bremsklötze müssen an den richtigen Positionen am Flugzeug stehen. Orangene Pylonen-Hütchen markieren: Hier darf nicht gefahren oder gelaufen werden, zum Beispiel unter den Tragflächen. Als Aircraft Loading Supervisorin achtet Nicole Gerlach auch darauf, dass die Maschine rechtzeitig betankt und das Gepäck verladen ist, dass die Container im Bauch des Fliegers gemäß den Sicherheitsstandards gut verstaut und festgezurrt sind, und natürlich, dass Crew und Passagiere rechtzeitig an Bord kommen.
[NG] Ja, am Ende schaue ich zu, dass das Flugzeug ordnungsgemäß verschlossen wird. Und wenn alles gut läuft, kann ich am Ende dann mit dem Flugzeug rauslaufen und dem Kapitän Goodbye winken.
[VO] Abgefertigt werden verschiedene Flugzeugtypen von der Bombardier CR-9 bis zur Boeing 747. Die Abläufe sind je nach Flugzeugmuster nach einem gewissen Referenzmodell minutiös durchgetaktet. Das gelingt aber leider nicht immer: Cleaning oder Catering können länger brauchen, die Crew oder auch Passagiere können verspätet ankommen. Mitunter muss auch ein Koffer wieder ausgeladen werden. Das alles mit einem eng getakteten Zeitplan im Nacken, der keine Fehler verzeiht. Aber darin besteht für Nicole Gerlach auch der Reiz:
[NG] Ich stelle es mir immer vor wie so ein Computerspiel und versuche dann den Endgegner, meine Zeit (lacht), zu schlagen. Und wenn ich sie geschlagen habe, die Zeit, und mein Flugzeug rechtzeitig rauskommt, on time, dann bin ich glücklich und denke mir: Ja, ich habe es geschafft!
[VO] Die Kunst besteht also darin, alles so zu organisieren, dass das Flugzeug doch noch pünktlich abheben kann. Dabei helfen Erfahrung und gute Ausbildung, meint Nicole Gerlach. Was braucht man noch für den Job?
[NG] Eine schnelle Auffassungsgabe, Wetterfestigkeit, Liebe zum Flughafen, flexibel solltest du sein und organisatorische Fähigkeiten besitzen.
[VO] Die gelernte Hotelfachfrau kam aus Liebe zum Flughafen 2011 zur Lufthansa. Als Aircraft Loading Supervisorin ist sie seit 2020 tätig. Vorher gab es viel zu lernen: eine Woche Inhouse-Training, webbasierte Trainings, bevor es dann auf Lehrgang ging. Zunächst wird auf Kurzstrecke trainiert, später kommen die komplexeren Langstrecken dazu. Mehrere Wochen laufen die Anwärter mit erfahrenen Vorgesetzten mit, ehe sie allein abfertigen dürfen. Nicole Gerlach wollte das unbedingt. Sie begeistert sich für das gesamte Zusammenspiel der verschiedenen Disziplinen rund ums Flugzeug:
[NG] Mich hat draußen das Vorfeld schon immer fasziniert. Ich nenne es mal den „Ameisenhaufen“, der da draußen wuselt (lacht). Wie schafft man es, dass ein Flugzeug rechtzeitig abheben kann? Wie funktioniert die Logistik? Da habe ich mich entschieden, ich versuch’s. Und schon nach kurzer Zeit habe ich gemerkt: Das ist meine Passion, das ist meine Leidenschaft. Hier bin ich und hier bleibe ich und möchte nichts anderes machen.
[VO] Bei den vielfältigen Aufgaben, die sie tagtäglich zu bewältigen hat, gefällt ihr eine ganz besonders: der Walk-out-Assistant.
[NG] Der Walk-out-Assistant ist das sehende Auge für den Piloten. Der läuft neben dem Pushback-Truck mit dem Flugzeug raus auf die Stelle, wo er die Triebwerke anschmeißen kann. Dann stehst du an der Nase vom Jumbo. Die vier Triebwerke gehen an, der Boden vibriert unter dir. Und das ist einfach nur genial.
[VO] Wind und Wetter spielen nicht immer mit. Gerade im Winter kann es auf dem Rollfeld schon einmal ungemütlich werden. Dennoch: Nicole Gerlach möchte ihren Job um keinen Preis gegen einen anderen tauschen, denn sie findet ihn einfach …
[NG] Mega! Also, es ist wundervoll! Das ist unbeschreiblich! Ich kann nicht genug bekommen. Flugzeuge! Ich liebe es! Ich gehe raus und bin glücklich.
[LR] Michael, auf dem Rollfeld ist der Mensch dann nach wie vor unersetzlich? Wie wichtig ist der Mensch und die Erfahrung in eurem Job im HOC?
[MM] Extrem wichtig. Am Ende laufen extrem viele Fäden und Informationsquellen bei uns zusammen. Da denkt man zwar immer, das ist relativ leicht zu digitalisieren, und dann gibt es da eine große AI-Maschine im Hintergrund, die das verarbeiten kann. Fakt ist aber, es ist nicht alles digital vorhanden nach wie vor, auch wenn wir im digitalen Zeitalter unterwegs sind. Und zum anderen sind so viele Abwägungen zu treffen, die ein Computer zumindest heute noch nicht kann – wer weiß, was in zehn, fünfzehn Jahren ist? –, aber heute einfach noch nicht kann. Und da braucht es definitiv den Menschen, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.
[LR] Andreas, auf welche Hilfsmittel könnt ihr denn genau zurückgreifen bei eurer Entscheidung? Ist das dann eine KI, die programmiert ist für eure Fälle?
[AB] Jein. Also wir arbeiten jetzt heute nicht mit fertig programmierten KIs, sondern wir arbeiten, was du vorhin sagtest, mit sehr vielen Systemen, mit sehr vielen Datenquellen, die auch sehr dynamisch sind. Kann man sich am Beispiel des Wetters vorstellen. Das ist jeden Tag anders. Es gibt nie einen Tag, an dem das Wetter am Flughafen hier in München gleich ist und an den Zielflughäfen gleich ist, sondern ich muss mit verschiedenen Informationsquellen am Ende mir ein Bild machen und daraus eine Planung machen, die ich überwache und in diese Planung auch wieder eingreife. Und da ist der Mensch nicht ersetzbar.
[LR] Welche Rolle könnte KI zukünftig spielen, Michael?
[MM] Größere Datenmengen beherrschbarer und überschaubarer zu machen. Der Mensch muss sich viele verschiedene Informationen zusammensuchen und die für sich in Einklang bringen. Die Konsolidierung dieser großen Datenmengen – da, glaube ich, kann KI in Zukunft unterstützen.
[LR] Verantwortet wird der gesamte Bereich Operations bei der Airline im Vorstand von Chief Operating Officer Karl Brandes, selber auch Pilot und langjähriger Flugbetriebsleiter. Er kennt also die Komplexität von Flugplänen und weiß um die Bedeutung des Faktors Mensch in einer software- und KI-gestützten Welt.
[KB] Operations – was ist das überhaupt? Also grundsätzlich versteht man unter dem Thema Operations die Planung, die Durchführung und am Ende auch die Überwachung all dieser Abläufe, die es in einem Flugbetrieb braucht, um einen Flug durchzuführen. Und es geht los mit der Flugplanung. Dann müssen wir aber auch die Wartung von Flugzeugen planen. Wir brauchen Besatzungen, die müssen koordiniert werden, und wir brauchen auch Bodenpersonal für die Abfertigung dieses Flugzeugs. Ich glaube, man erkennt die Komplexität von so einer Taktung, wenn man bedenkt, wie viele verschiedene Gewerke man braucht, um einen Flug durchzuführen: Lademannschaften, die Menschen, die ein Flugzeug betanken, reinigen usw.
[KB] Ja, ich denke, die Anforderungen an Operations einer Airline, die können ja vielfältig sein. Ein ganz prägnantes Beispiel war sicherlich 2010 der Vulkanausbruch auf Island, der dazu geführt hat, dass wir über eine Woche Stillstand im europäischen Luftverkehr hatten. Aber es muss ja nicht immer gleich ein großer Vulkan sein. Warten wir mit einem Flug auf einen Gast? Was sind Folgewirkungen zum Beispiel für die Besatzung mit ihren Flugdienstzeiten? Was sind Fragestellungen für die Wartung dieses Flugzeugs? Oder können wir an dem Flughafen überhaupt so lange stehen bleiben, um diesen Flug so durchzuführen? Unser Flugzeug muss zu einer bestimmten Tageszeit an einem bestimmten Flughafen sein, um es warten zu können. Die Flughäfen erlauben uns nicht zu jeder Zeit, ein Flugzeug dort stehen zu lassen. Und mit solchen Herausforderungen kämpfen wir jeden Tag.
[KB] Unsere Verkehrszentralen sind heute schon von der technologischen Seite auf einem sehr, sehr modernen oder modernsten Status. Denn im Betriebsablauf müssen wir enorm viel überwachen, auch im gesetzlichen Sinne, um eben dann auch effizient und reibungslos fliegen zu können. Für die Zukunft wollen wir noch verstärkt auf das Thema KI-gestützte Prognosemodelle setzen. Ziel ist dann, noch genauere Flugplanung und aber auch Flugüberwachung durchführen zu können. Mit KI kann man einfach wesentlich mehr Daten erfassen, um dann eben langfristig mit dieser Technologie in unserer Ops [red. Operations] auch für unsere Kunden planbarer und nachhaltiger das Reiseerlebnis gestalten zu können und auch zu verbessern.
[KB] Am Ende ist ganz, ganz viel in der Kundenwahrnehmung sicherlich trotzdem der Mensch – der Mensch an Bord, der Mensch am Gate oder eben auch der Mensch, der irgendetwas ermöglicht. Wir hatten ein ganz besonderes Beispiel: Ein Gast hatte seinen Hochzeitssack im Gate-Bereich vergessen, und wir haben es tatsächlich geschafft, entgegen allen normalen Prozessen, ihm diesen Hochzeitssack noch an Bord zu bringen. Und diese Emotionen, glaube ich, sind das, was uns auszeichne[t] und was sowohl für unsere Gäste, aber auch für die Mitarbeiter dann am Ende die Erfüllung und das Zufriedenmachen ist. Und unsere Kolleginnen und Kollegen engagieren sich jeden Tag für jeden Flug und bei allem Einsatz von Technologie. Am Ende wird es immer der Mensch sein, der Tag für Tag sein Bestes gibt.
[LR] Am Ende ist es immer der Mensch, sagt Karl Brandes. Wie oft entscheidet ihr im HOC nach eigener Erfahrung und wie oft folgt ihr dann wirklich der Software? Oder ist es immer das Zusammenspiel?
[AB] Es ist das Zusammenspiel. Also die Software bietet uns … und die Informationen aus der Software bieten uns natürlich eine Entscheidungsgrundlage. Es ist extrem wichtig, die Erfahrung bei der Entscheidung, beim Treffen der Entscheidung dann zu haben und sie auch anzuwenden. Was machen wir jetzt aus dieser Situation? Was machen wir mit einer Flughafensperrung am ersten Pfingstferientag, die morgens um halb sechs kommt? Das ist nichts, was ich in einem Buch nachlesen kann. Und es ist auch nichts, wo mir ein System einen vorgefertigten Vorschlag macht, sondern da ist genau die Erfahrung, welche Kettenreaktionen löse ich aus, welche Kettenreaktionen laufen schon, und mit welchen Optionen kann ich dieses Thema wieder fangen, ausschlaggebend.
[LR] Ist schon so ein Rätsel, was man jeden Tag lösen muss mit einer unterstützten Software – oder, Michael?
[MM] Ja, also, wer knifflige Aufgaben gerne löst oder auch Tetris spielt, der ist bei uns in jedem Fall richtig.
[LR] Ja, herzlichen Dank für den spannenden Einblick in dieses Gebiet, über das man ja sonst relativ wenig erfährt, wie sich die gesamte Airline timt. Weitere Infos zu unserem Podcast findet ihr in unseren Shownotes. Und könnt ihr schon sehen, ob ich heute zurück nach Düsseldorf komme?
[AB] Natürlich!
[MM] Natürlich!
[LR] Danke und bis bald zur nächsten Folge Above und Beyond!
[MM] Vielen Dank!
[AB] Vielen Dank!
[VO] Das war: Above and Beyond – der Podcast der Lufthansa Airlines. Mehr Einblicke in die Luftfahrt gibt es in der kommenden Folge. Und für alle, die nicht mehr so lange warten wollen: Folgt doch unserem Instagram-Kanal lufthansaviews. Alle Links findet ihr wie immer in den Shownotes.
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