Wie die Welt kleiner wurde: die Evolution des Streckennetzes
Shownotes
Von Hamburg nach Buenos Aires – mit sieben Zwischenstopps! So begann Anfang der 60er-Jahre ein Langstreckenflug mit Lufthansa. Heute verbinden Frankfurt und München als globale Hubs die Welt nahtlos miteinander. In dieser Folge von Above and Beyond spricht Host Anja Heyde mit Martina Pichura, verantwortlich für die interkontinentale Netzplanung, und Magnus-Raúl Abstoß, Leiter der Flugplanung am Hub Frankfurt. Gemeinsam werfen sie einen faszinierenden Blick zurück auf die Pionierzeit der Luftfahrt und zeigen, wie sich das Streckennetz von einem Flickenteppich zur Hightech-Infrastruktur wandelte – mit Einblicken in Tools, KI-gestützte Planung und Zukunftsvisionen. Dazu gibt’s historische Einblicke in die Anfänge der Lufthansa-Streckennetze mit Historiker Dr. Andreas Greiner. Eine Reise durch 100 Jahre Luftfahrtgeschichte – und ein Ausblick auf morgen!
Transkript anzeigen
[MA] Tatsächlich ist es so, dass das Umsteigen in den 60er-, in den 50er-Jahren noch keine Bedeutung gespielt hat. Die Flughäfen waren gar nicht darauf ausgelegt, Umsteiger zu generieren. Dann, Anfang der 70er, entwickelte sich langsam dieser Trend, dass man Drehkreuze aufgebaut hat, das, was man heute klassisch „Hub“ nennt.
[MP] Wir haben hier einen 360-Grad-Hub in Frankfurt und binden eigentlich die komplette Welt miteinander an.
[VO] Above and Beyond – der Podcast der Lufthansa Airlines. Für Einblicke in die Luftfahrt.
[AH] Von Hamburg nach Buenos Aires, über Düsseldorf, Frankfurt, Paris, Dakar, Rio de Janeiro, São Paulo und Montevideo. Falls Sie jetzt spontan mitgezählt haben, ja, das sind sieben Zwischenlandungen bis zum endgültigen Ziel Buenos Aires. So flog man halt Anfang der 60er-Jahre nach Südamerika mit der Deutschen Lufthansa. Heute läuft das natürlich alles anders. Es gibt Zubringerflüge zu den zentralen Drehkreuzen, den sogenannten Hubs, in Frankfurt Main und München und Flieger, die zwischen ihren Destinationen hin- und herpendeln, statt wie früher zu rotieren und rund um die Welt zu gondeln. Also, Sie merken schon: Es hat sich einiges verändert in 100 Jahren Lufthansa, auch beim Streckennetz. Und das sehen wir uns heute mit zwei Profis aus der heutigen Streckennetzplanung an. Herzlich willkommen bei „Above and Beyond“, Martina Pichura und Magnus Abstoß!
[MP] Hi!
[MA] Vielen Dank.
[AH] So, Sie beide arbeiten, wir klären das jetzt zuerst, im sogenannten Network Planning bei der Lufthansa?
[MP] Ja.
[AH] Und zwar im sogenannten Cont und Intercont. Was heißt denn das jetzt? Also vielleicht erst mal die Begriffsklärung für alle da draußen: Was sind Cont und Intercont?
[MP] Cont steht für Kontinentalverkehr, Intercont für Interkontinentalverkehr, also zwischen Kontinenten.
[AH] Und das hängt aber auch zusammen beides? Also man kann es eigentlich nicht trennen? Oder doch?
[MP] In unserer Perspektive kann man es schon trennen, weil im Kontinentalverkehr würden wir andere Flugzeugtypen einsetzen als auf dem Interkontinentalverkehr. Soweit würde ich schon gehen, oder?
[MA] Wobei es Überschneidungen gibt.
[MP] Ja, das stimmt.
[MA] Wenn es nach Nordafrika, in die Levante oder auch in den Kaukasus geht, fliegen wir eigentlich mit sogenannten Kontinentalflugzeugen. Aber dieses Verkehrsgebiet gehört klassisch bei Lufthansa den interkontinentalen.
[AH] Also wer von Ihnen macht was? Martina, fangen wir bei Ihnen an.
[MP] Ich bin im Intercont-Bereich tätig und bin für die Markt- und Netzplanung für die ganze Lufthansa-Gruppe verantwortlich im Bereich Americas, im Speziellen für die USA-Ostküste. Und zusätzlich bin ich auch noch hier in Frankfurt für die operationelle Hub-Koordination im Intercont-Bereich verantwortlich und arbeite ganz eng mit dem Magnus und seinem Team zusammen.
[MA] So, und bei mir ist es so, dass ich nie wieder Cont noch Intercont bin, sondern ich bin verantwortlich für die Flugplanung oder das im Englischen Scheduling, das Hub Frankfurts für die Lufthansa, aber auch für die Tochtergesellschaften, die hier in Frankfurt fliegen, wie eine Air Dolomiti oder eine CityLine oder auch in Zukunft eine Lufthansa City, die hier in Frankfurt auch fliegen.
[AH] Jetzt noch eine ganz persönliche Frage: Würde einer von Ihnen beiden heute noch mal sieben Mal umsteigen, um irgendwohin zu fliegen?
[MP] Ehrlicherweise nein.
[MA] Also just for fun – man steigt ja nicht um, aber ich fände das schon eine coole Sache, mal so dieses zu erleben, wie man damals, in den 60er-Jahren, auch gereist ist. Es war ja auch ganz anders, als es heute ist. Wahrscheinlich auch stressfreier, weil es nicht so viele Menschen waren. Und das finde ich schon mal interessant, das zu erleben.
[AH] Ich habe auch gehört, das Essen soll ganz gut gewesen sein. Zum Glück geht es heute anders. Ich habe es ja schon erwähnt. Heute gibt es die Drehkreuze, die Hubs, Frankfurt und München, aber die sind historisch gewachsen. Das war zu den Anfängen der ersten deutschen Lufthansa vor dem Zweiten Weltkrieg, aber auch noch bei der Nachkriegs-Lufthansa ganz anders. Wir hören mal rein, wie das in einem Imagefilm von 1958 klingt.
[Pilot Voice] Hamburg Tower, 4-2-0 ready for Take-off.
[Male Voice] Die Weltflughäfen – Ausgangspunkte der Reisen, die in Stunden über Meere und Gebirge, Wüsten und Urwälder führen: nach Bagdad oder Buenos Aires, Paris, Madrid, Kopenhagen oder Rom, Chicago, Montreal oder New York. Heimathafen der Lufthansa-Flotte ist Hamburg. Von hier gehen alle Strecken aus, und hier enden sie alle.
[Female Voice] Die Welt ist kleiner geworden. Das Flugzeug hat sie uns erschlossen.
[Tower Voice] Lufthansa 4-2-0. You are clear to go. The service wind is calm.
[Pilot Voice] Clear for Take-off.
[AH] Hm (summt). Wunderbare Musik von Martin Böttcher aus dem Lufthansa-Imagefilm „Willkommen an Bord“ von 1958. Die Welt ist kleiner geworden, es war gerade eben so dieser Satz. War das auch das Lebensgefühl der Nachkriegsdeutschen in der beginnenden Wirtschaftswunderzeit?
[MA] Das ist eine gute Frage. Das könnte ich nicht verneinen und nicht bejahen, weil ich leider nicht aus der Zeit stamme. Aber wenn man sich die Entwicklung des Streckennetzes anguckt, dann muss es schon irgendwie in die Richtung gewesen sein, weil: Die Lufthansa hat sich ja orientiert an dem, was der Deutsche gerne reisen, anfliegen wollte, hinreisen wollte. Und das war, ich glaube, der Drang, in die Ferne zu reisen, war schon da. Der ist ja heute immer noch da.
[AH] Lässt sich sagen, was so damals die exotischsten Reiseziele waren der Deutschen?
[MA] Also damals gab es natürlich noch Strecken, die man heute so nicht mehr betreiben kann wie noch bis nach Australien, ist man ja teilweise noch geflogen, oder auch eben halt lustige Destinationen quer durch Asien, um eben halt auch mit den Flugzeugen, die damals zur Verfügung standen, diese Zwischenstopps zu machen. Und man konnte damals auch noch Passagiere von zwischen den Flughäfen mitnehmen. Also von Kalkutta nach Karatschi durften wir Passagiere befördern als Lufthansa oder eben halt auch zwischen Saigon und Tokio. Aber alles Destinationen, die wir teilweise nicht mehr anfliegen heutzutage als Lufthansa, also Saigon und Karatschi fliegen wir einfach nicht mehr. Das hat verschiedene Gründe. Nicht vielleicht, dass die Deutschen da nicht mehr hinfliegen wollen, aber vielleicht auch politische, wirtschaftliche Gründe.
[AH] Aber der Startflughafen, im Beitrag hieß es „Der Heimathafen“, der Lufthansa Ende der 50er-Jahre war Hamburg, ganz zu Beginn sogar Köln-Bonn. Warum hat sich das dann geändert? Wie ist es zu den heutigen Strukturen gekommen?
[MA] Also tatsächlich hatte die Lufthansa ihren Hauptsitz zwar nach dem Zweiten Weltkrieg in Köln, aber die technische Basis war Hamburg. Und der größte Flughafen war aber immer schon damals Frankfurt. Und später, als das – der Wechsel vom Propellerflugzeug zum Düsenflugzeug war, hat man die Düsenflugzeuge dann nur noch in Frankfurt gebased und nicht mehr in Hamburg. Und dann war der Beginn Anfang der 60er nicht mehr in Hamburg, sondern zum größten Teil in Frankfurt.
[AH] Also der Grundstein war dann das Jetzeitalter tatsächlich?
[MA] Ja, das hat – –
[AH] Dieses höher, schneller, weiter? Wie hat sich das dann aufs Streckennetz ausgewirkt?
[MA] Also tatsächlich hat sich das Streckennetz an der Stelle verändert, dass man mit einem Mal mit Flugzeugen, die eine andere Reichweite hatten, viel weiterkam als vorher. Das heißt, so eine Super-Connie, die zwar innendrin schick ausgestattet war, musste aber in Rom runter oder dann in Kairo, um überhaupt bis nach Indien zu kommen. Und mit dem ersten Jet der 707 kam eine Lufthansa eben auch schon viel, viel weiter, als es sie mit einem Propellerflugzeug kam. Also man konnte Rom auslassen, man konnte auch Kairo auslassen und konnte dann eben halt auch ganz andere Verbindungen ermöglichen und man war viel schneller am Zielort.
[AH] Und ab wann hat dann das Umsteigen eine größere Rolle gespielt?
[MA] Tatsächlich ist es so, dass die das Umsteigen in den 60er-, in den 50er-Jahren noch keine Bedeutung gespielt hat. Die Flughäfen waren gar nicht darauf ausgelegt, Umsteiger zu generieren. Man flog eben mit einem Flug verschiedene Destinationen an und hat somit das Flugzeug auch gefüllt. So, und dann, Anfang der 70er, entwickelte sich langsam dieser Trend, dass man Drehkreuze aufgebaut hat, das, was man heute klassisch „Hub“ nennt. Und diese Hubs haben sich eben halt über die Jahre entwickelt und auch durch die IT, die kam, wurden die immer besser. Und heutzutage ist das eben in diesem System, auch Frankfurt, München, aber auch Zürich, Wien und Brüssel spielen da auch eine Rolle in der Lufthansa-Gruppe. Und jedes Hub hat auch eine bestimmte Rolle. Und wenn man jetzt auf das Streckennetz von heute guckt, ist das komplett anders aufgebaut als früher. Wir haben fast kaum noch Verbindungen, wo wir noch einen Zwischenstopp einlegen, sehr wenig in Afrika oder Ähnliches machen wir das noch oder im Nahen Osten. Ansonsten haben wir sehr viel Direktverbindungen und bringen aber sehr viele Menschen aus dem Kontinentalnetzwerk zu dem Interkontinental-Netzwerk in die Hubs, um die Leute quasi an die Welt anzubinden. Und so binden wir in unseren Hubs eben dann auch neue Destinationen ein, die über komplizierte Tools, die wir haben, ermittelt werden. Da kann aber sicher eine Martina ein bisschen mehr erzählen als ich, weil das eigentlich ihre Aufgabe ist, dieses Netzwerk zu entwickeln.
[AH] Da steigen wir gleich noch ein bisschen tiefer ein. Frau Pichura, wir werfen jetzt noch mal einen Blick zurück in die erste Hälfte dieser 100 Jahre Lufthansa. Und so kompliziert und ausgeklügelt wie heute war das Streckennetz der ersten deutschen Lufthansa nicht. Sie ahnen das vermutlich schon. Wir haben das mit dem Historiker Dr. Andreas Greiner mal aufgedröselt.
[VO] Fliegen – was heute Alltag ist, war vor 100 Jahren nicht nur ein Abenteuer, sondern auch wirtschaftlich und technisch eine Herausforderung. Darüber hinaus ein Politikum. Warum flog Lufthansa in den 1930er-Jahren zum Beispiel ausgerechnet nach Afghanistan oder Südamerika? Und was hatte das mit Diplomatie, Propaganda und Postpäckchen zu tun? Themen, die der Historiker Dr. Andreas Greiner vom German Historical Institute in Washington erforscht. Zunächst baute Lufthansa peu à peu das Streckennetz in Mitteleuropa auf, erklärt Greiner.
[AG] Also, die Lufthansa übernimmt ja 1926 Teilstrecken von früheren Airlines und baut zunächst innerhalb Deutschlands und Mitteleuropas ein Netz auf von Paris nach Berlin, von Zürich nach Hamburg, aber auch kleinere Strecken. Merkt dann aber sehr bald, dass diese Strecken eigentlich nicht konkurrenzfähig sind gegen die sehr guten Eisenbahnnetzwerke dieser Zeit und versucht quasi, größere internationale Strecken nach London zum Beispiel, vor allem aber auch interkontinentale Strecken nach Südamerika, nach Nordamerika und nach Asien zu forcieren, weil dort die Konkurrenz des Schiffs abgehängt werden kann.
[VO] Und sie tut das nicht allein. Schon damals kooperieren Airlines gezwungenermaßen miteinander, und das trotz wirtschaftlicher Konkurrenz und politischer Rivalität der Staaten europaweit – mit gemeinsamen Tickets, Gepäckregeln und abgestimmten Flugplänen. Doch wirtschaftlich war das kein Selbstläufer.
[AG] Gleichzeitig kann auch die Lufthansa nicht wirtschaftlich arbeiten in der Zwischenkriegszeit, sondern ist sehr abhängig von deutschen Subventionen. Die Idee der Förderung ist natürlich, dass die Lufthansa ja als Flag Carrier ein Prestigeobjekt ist, das quasi die deutsche Flagge, deutschen Handel, deutsche Diplomatie außerhalb Europas und international vertreten soll in einer Zeit, in der Deutschland als Verlierer aus dem Ersten Weltkrieg erst international wieder ein Standing erarbeiten soll. Und ich glaube, es ist wichtig zu verstehen, dass auch das Lufthansa-Management nicht Erfüllungsgehilfe des Ganzen ist, sondern eigene Interessen verfolgt und ihrerseits versucht, wirtschaftlich zu arbeiten und auch möglichst breit einen Netzausbau zu betreiben.
[AG] Das Reich wollte also Flagge zeigen – das galt besonders in Asien. Strecken über den Iran, Afghanistan, China bis nach Bangkok waren Versuche, britische Kolonialpolitik und sowjetisches Großmachtstreben politisch wie wirtschaftlich zu umgehen.
[AG] Und dort gezielt versucht das Auswärtige Amt mit Diplomatie, versucht auch der Handel, Siemens und andere Firmen, hineinzustoßen, weil dort eben noch Geschäfte gemacht werden können, die nicht von der Sowjetunion oder von den Briten dominiert werden. Da ist die Lufthansa ein sehr wichtiger Faktor, einerseits den Handel zu fördern, andererseits auch wirklich als Symbolpolitik diese Verbindung durch eine echte Luftverbindung zu untermauern.
[VO] Der große Coup: die Nordatlantikstrecke. Technisch schwierig, politisch heikel. Lufthansa zeigte logistisch enormen Einfallsreichtum.
[AG] Auf dem Nordatlantik ist allen Beteiligten klar: Das ist eigentlich die Prestigestrecke, das ist die Strecke Europa-USA. Dort wird am meisten Umsatz gemacht werden, dort gibt es am meisten Verkehrsaufkommen – dennoch die letzte interkontinentale Strecke, die eingeweiht wird. Ganz kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs gibt es die ersten Passagierflüge von Pan American Airways. Das Problem hier ist, dass es einfach die schwierigste Strecke ist. Es gibt extreme Gegenwinde, es gibt eisige Temperaturen, und die Flugzeuge in dieser Zeit können nur über kürzere Etappen fliegen. Die Lufthansa hat ein eigenes Konzept. Die haben sogenannte Katapultschiffe. Das heißt, ein Flugzeug fliegt einen Teil der Strecke, landet dann im Ozean, wird dort von einem Schiff der Lufthansa aufgesammelt, vollgetankt und dann mit einer Art riesigen Steinschleuder zurück in die Luft geschossen und fliegt dann von dort weiter nach New York.
[VO] Das funktioniert auch, zumindest für den Postverkehr. Das Problem für Lufthansa war, dass sie bei Passagierflügen keine Landelizenz für die USA bekam – aus politischen Gründen.
[AG] Also es ist aus der Kommunikation des amerikanischen Wirtschaftsministeriums klar zu sehen, dass es zusammenhängt mit der nationalsozialistischen Herrschaft, mit der Besetzung Österreichs, mit dem Umgang auch mit amerikanischen Juden in Deutschland – wird klar überlegt, der Lufthansa diese Landerechte zu verweigern.
[VO] So wurde die Lufthansa ein Stück weit zum Spielball der Politik. Kaum war sie die Rolle einer heimlichen „Ersatzluftwaffe“ der Weimarer Republik los, wurde der Nationalsozialismus zum Problem für den Streckenausbau – nicht nur in den USA, auch in Südamerika.
[AG] Zum Beispiel die Lufthansa Tochter Syndicato Condor, die in Brasilien fliegt und die den Anschluss an die Südamerika-Strecke der Lufthansa betreibt, hat plötzlich politisch Probleme und wird später verstaatlicht, weil quasi eine Sorge besteht, dass das im Endeffekt eine verdeckte Luftwaffenbrigade ist, die dort in Lateinamerika schon mal die Vorhut des Nationalsozialismus bilden könnte.
[VO] So war Lufthansa auch beim Ausbau des Streckennetzes gleichzeitig Prestigeprojekt, Propagandainstrument und Pionier moderner Luftfahrt – wirtschaftlich und technisch ambitioniert, aber auch Objekt von Handelsinteressen, Diplomatie und deutschem Geltungsbedürfnis.
[AH] So, Sie haben es geahnt, Flugreisen in den 30er-Jahren waren also erheblich langwieriger als heute. Aber auch damals flog Lufthansa schon solche weit entfernten Sehnsuchtsorte wie Rio de Janeiro, Bagdad und Bangkok an. Herr Abstoß, nach welchen Kriterien wurde denn früher und nach welchen wird heute entschieden, welche Destinationen wie oft und mit welchen Flugzeugen angeflogen wird? Sie haben es vorhin schon mit den Tools angesprochen.
[MA] Ja, also früher war es tatsächlich eher die Notwendigkeit, aus politischen oder ähnlichen Gründen, wo man hingeflogen ist. Und heutzutage sind es sehr stark wirtschaftliche Gründe und da wird die Martina sicherlich mehr zu sagen können, weil wir natürlich heute IT-seitig super ausgestattet sind.
[AH] Was können denn die Tools?
[MP] Die Tools unterstützen uns eigentlich ziemlich gut darin zu entscheiden, welche Destinationen welche Nachfrage aufweisen und zudem auch, mit welchen Flugzeugtypen wir die Destination wie oft in der Woche, aber auch zu welchen Zeitenlagen anbinden könnten. Also das ist schon ziemlich gut oder unterstützend in der Entscheidungsfindung. Und wenn man zum Beispiel ein Beispiel nimmt aus der jüngsten Vergangenheit: Letzten Sommer haben wir eine neue Destination in den Vereinigten Staaten aufgenommen. Wir fliegen jetzt seitdem von Frankfurt nach Valley Durham. Da sieht man einfach, dass wir in der Lage sind, noch Destinationen zu finden, die nicht überangeboten sind. Und diese Tools helfen uns da einfach ziemlich gut drin.
[AH] Also das heißt, die Software oder die – oder auch KI vielleicht möglicherweise schon hat das Ganze ein Stück weit revolutioniert, oder wie arbeitet das? Also das interessiert mich mal einfach.
[MP] Man kann sich das so vorstellen, dass eigentlich in so einem Tool zusammenläuft auf der einen Seite Performancedaten oder Kostendaten von uns selbst und dann zusammengespielt werden mit Daten, die wir extern einkaufen. Und das können Marktdaten sein, passagierabhängige Daten, also Verkehrsstromdaten, Flugpläne der Wettbewerber, Wachstumsdaten. Und wenn man das alles zusammenspielt, dann hat man in einem Tool eine unheimliche Unterstützung in der Arbeit oder in dem Herausfinden, Evaluieren, wo wir als Nächstes als Lufthansa hinfliegen können.
[AH] Und wie entscheidet sich das dann am Ende, wo man hinfliegt? Also welche Kriterien sind dafür entscheidend?
[MP] Eigentlich ist es ein Mix zwischen wirtschaftlichen, operationellen Kriterien oder auch strategischen Rahmenbedingungen, zum einen die Nachfragemuster sein, verkehrsrechtlich muss es natürlich erlaubt sein und möglich sein, dorthin zu fliegen, Slots an Flughäfen können ein limitierender Faktor sein. Es kann natürlich sein, wir wollen irgendwo hinfliegen, aber wir bekommen gar keinen Slot dafür. Das gibt es zum Beispiel auch. Also es ist so ein Mix von allem.
[AH] Es können ja nicht alle Flieger überall landen – oder konnten nicht überall landen. Es gab aber halt auch, früher zumindest, mehr ein bisschen, sagen wir mal, Beinfreiheit beim Verkehrsrecht und sogar Absprachen mit der Konkurrenz. Wie lief das dann?
[MA] Also früher war das tatsächlich so, dass man, zumindest in Europa, sich mit den Konkurrenten so abgestimmt hat, dass über die Woche zum Beispiel Tokio von allen – also von jedem Tag gab es eine Verbindung aus Europa nach Tokio und an zwei Tagen die Woche flog die Lufthansa, an dreien flog die Air France und an weiteren zwei Tagen die Alitalia. Und ich weiß gar nicht – heutzutage – Martina?
[MP] Ein absolutes Tabu eigentlich, mit Wettbewerbern zu sprechen. Undenkbar. Gibt es nicht. Also wir fokussieren uns dann eher, quasi in den Allianzen miteinander zu kooperieren oder eben in einer vertieften Zusammenarbeit in Form von Joint Ventures, wie zum Beispiel das, was wir als Lufthansa mit der United und Air Canada haben. Da sind wir eigentlich – haben wir die stärkste Präsenz auf dem Nordatlantik und bieten mit nicht ganz 300 Destinationen eigentlich das größte Portfolio in den USA und Kanada zusammen im Verbund an.
[AH] Aber diese Star Alliance, also diese Group, wenn man so will, in der halt so viele Airlines zusammenkommen, sind das nicht auch Konkurrenten am Ende? Oder läuft es dann anders?
[MA] Also es sind tatsächlich auch Konkurrenten manchmal. Aber im Großen, im großen Ganzen ist es schon die Idee hinter so einer Allianz, dass man zusammenarbeitet oder zumindest sich nicht gegenseitig, ich sage mal so, die Butter vom Brot nimmt.
[AH] So, und innerhalb der Lufthansa Group arbeitet man natürlich auch zusammen. Da sind ja auch verschiedene Airlines, Knotenpunkte, Zubringerflüge. Erklärt das dann auch schon die Hubs-Struktur, warum das so ist, wie es ist?
[MA] Also tatsächlich hat jedes Hub unter Umständen eine Rolle über die Zeit gewonnen, so wie das Brüssel sehr stark das Africa Powerhouse ist. Frankfurt ist eher so ein 360-Grad-Hub heutzutage. Ob das in Zukunft so bleibt, wissen wir nicht, aber so hat sich das eben entwickelt. Aber jetzt gebe ich der Martina gerne das Wort noch mal zurück. Wenn man zum Beispiel überlegt, wo wir hinfliegen, macht es vielleicht in einem Hub mehr Sinn als im anderen. Oder es gibt auch Ergänzungen, dass man eben halt sagt, dass man New York zum Beispiel zu verschiedenen Zeiten aus den Hubs anbietet.
[MP] Ja, man kann es vielleicht auch umdrehen und allein aus der Perspektive – wenn wir schauen, wie viele Interkontinentalflugzeuge oder Großraumflugzeuge wir in der Lufthansa-Gruppe haben, sind zwei Drittel davon in Frankfurt – oder fliegen aus Frankfurt. Wir haben hier ein 360-Grad-Hub in Frankfurt und binden eigentlich die komplette Welt miteinander an. Ein gutes Beispiel dafür, wie wir in den Hubs auf die Zubringung angewiesen sind, ist ein Flug von Frankfurt nach Chicago dieses Jahres im März. Von 277 Passagieren an Bord kamen 250 gar nicht aus Frankfurt, sondern aus 56 Orten in der ganzen Welt: Europa, Afrika, Nahost und Asien. Von den 277 Gästen, die dann in Chicago landen, steigt auch noch eine große Anzahl der Passagiere auf unserem Airlinepartner United auch noch weiter um zu 24 weiteren Zielorten in den USA.
[MA] Dann gibt es aber auch Strecken, die machen aus manchen Destinationen vielleicht mehr Sinn, weil es aus irgendeiner historischen Situation – eben war schon Brüssel erwähnt. Belgien hatte eben die Verbindung zu Afrika viel stärker, als es vielleicht Deutschland hatte. Deswegen fliegen die Kollegen von der Brussels Airlines viel stärker in die Mitte Afrikas, als wie es eine Lufthansa macht. Da gibt es einfach Aufgaben, die diese Hubs innehaben, die sich differenzieren zwischen den Hubs.
[AH] Wann passiert es denn – oder was? Welche Faktoren können denn auslösen, dass es so nachteilige unfreiwillige Veränderungen im Streckennetz gibt? Also dass man Slots verliert?
[MP] Es gibt verschiedene Faktoren, die Einfluss auf den Flugplan haben und zu Änderungen führen können. Das können sein politische, geopolitische Veränderungen, Wetter, verkehrsrechtliche Änderungen, mehr Freiheitsrechte oder eben weniger Wettbewerbsumfeld kann Einfluss haben, aber zum Beispiel auch ganz runtergebrochen, zum Beispiel wenn wir unpünktlich sind und nicht mehr unsere Slots einhalten an den Destinationen, die wir anfliegen. Und so kann es zum Beispiel passieren, dass wir unseren Slot in Riad verlieren und dann auf einmal vor der Situation stehen, eigentlich in der Folgeperiode nicht mehr hinfliegen zu können.
[MA] Und in solchen Fällen haben wir aber ein Team bei uns in der Netzplanung. Das ist das Slot-Management. Die kümmern sich dann darum, dass wir vielleicht solche Slots wieder zurückbekommen. Das ist nicht immer ganz einfach. Die Kollegen quasi verhandeln mit allen Slot-Koordinatoren der Welt über die Slots, die wir benötigen, das sind die Zeitfenster zum Starten und zum Landen. Und wir hatten in dem Fall von Riad tatsächlich die Situation, dass wir im letzten Sommer aufgrund von Unpünktlichkeit mehr als 15 Minuten im Schnitt verspätet waren und uns deshalb der Slot aberkannt wurde historisch. Die Kollegen haben dann mit dem Koordinator verhandelt und es gab dann auch eine Lösung hinterher. Es gab tatsächlich eine Airline, die ihre Slots abgegeben hat. Und so haben wir wieder diese – konnten wir die Strecke wieder komplett täglich anbinden an Frankfurt. Ansonsten wäre es natürlich ein Nachteil für Lufthansa gewesen, wenn der Geschäftsreisende nicht mehr die Auswahl gehabt hätte, jeden Tag nach Frankfurt zu kommen, sondern nur noch an bestimmten Tagen. Die Konkurrenz fliegt eben täglich. Das ist dann schade, wenn wir nicht mehr täglich fliegen können.
[AH] Kriegt man das immer geregelt? Weil: Das ist ja komplex, das ganze System.
[MP] Wir versuchen, es immer geregelt zu bekommen, aber natürlich kann es an der einen oder anderen Stelle haken und dann kriegen wir das nicht hin. Sind halt einfach externe Faktoren, die hier wirken. Und die hat man nicht immer selbst in der Hand.
[AH] Noch mal für mich: Wie viele Ziele fliegt die Lufthansa jetzt an? Wie gut – also wie koordiniert man das alles?
[MA] Aus Frankfurt fliegen wir 222 Destinationen in diesem Sommer, eine schöne Zahl. Habe ich – bin ich erst vor Kurzem drüber gestolpert, dass wir so eine Schnapszahl diesen Sommer haben. Und nicht jeder Flughafen ist koordiniert. Also ich mache jetzt mal ein Beispiel: Kleinere Flughäfen in der polnischen Fläche wie in Posen oder sowas, die haben keine Slots. Die großen Flughäfen haben Slots und die werden eben dann verhandelt und koordiniert.
[MP] Ein gutes Beispiel: New York JFK. Da sind die Slots extrem limitiert und die sind auch extrem hochwertig. Unsere LH 400 fliegt schon immer zu der Zeit, die wir jetzt im System haben, nach JFK, und da werden wir auch alles dafür tun, zum Beispiel so einen Slot gar nicht aufzugeben.
[AH] Zum Schluss vielleicht noch mal einen Blick in die Zukunft: Wie wird denn künftig Network Planning im Cont- und Intercont-Bereich aussehen?
[MP] Spannende Frage. Mit Sicherheit wird quasi die Weiterentwicklung in den Tools eine große Rolle spielen, die unsere Arbeit dann erleichtern wird. Vielleicht KI – oder bestimmt auch KI. Vielleicht kommen wir dahin, dass wir die Simulation oder die Business Cases, die wir tagtäglich rechnen, so irgendwie in Echtzeit modelliert werden können. Ich weiß es nicht, aber vielleicht kann das passieren. Und wenn man so ein bisschen auf die Rahmenbedingungen schaut, dann werden mit Sicherheit auch Innovationen bei den Flugzeugtypen, die das ganze Streckennetz beeinflussen. Man sieht jetzt schon, dass die Narrowbody-Flugzeuge immer wieder, immer öfter auf Intercont-Strecken zu finden sind. Das kann natürlich einen Einfluss haben, dass immer mehr dünnere Verkehrsströme angebunden werden können. Und das kann natürlich auch einen Einfluss auf die Hub-Bedeutung im Endeffekt haben.
[AH] Also, dass sich schlussendlich auch die Struktur noch mal verändert in den Hubs?
[MA] Das ist sehr gut möglich. Also vor allen Dingen so, wie Martina das gerade angesprochen hat. Wenn wir mit einer 321 kleinere Destinationen auch in den USA anfliegen würden, die wir heute vielleicht noch gar nicht auf der Landkarte haben. Das entwickelt sich ja gerade erst, dann könnte es natürlich sein, dass unsere Knotensysteme, wie wir es heute kennen, anders wird, breiter oder flacher. Es ist eher die Frage, wie sich das verändern wird. Aber auch da fehlt uns die Glaskugel. Wir würden ja schon gerne wissen, wie es wird selber. Und natürlich: IT entwickelt sich weiter. KI, haben wir ja gerade schon gesagt, haben wir auch schon ausprobiert, kommt bisher noch nicht das raus, was wir nutzen würden wollen. Es ist immer noch der Mensch tatsächlich besser, aber das entwickelt sich ja alles weiter. Da sind wir, glaube ich, alle gespannt.
[AH] Jetzt mache ich doch noch mal die Glaskugel auf, auch wenn ich das nicht soll, weil wir das ja alle nicht wissen. Aber wie stellen Sie sich denn so ein Streckennetz vor, 2040 zum Beispiel? Also haben wir mehr, haben wir weniger Destinationen? Wird es sehr viel anders? Weil ich meine, wir leben in einer unglaublich bewegten, volatilen Welt.
[MA] Also wünschen tue ich mir schon, dass wir mehr Destinationen fliegen. Wie wir diese Mehrdestinationen anbinden, das kann ich so nicht beantworten, weil tatsächlich sich das wahrscheinlich verändern wird, allein durch die Flugzeuge, die wir in Zukunft bekommen werden. Wir werden teilweise auch kleinere Intercont-Flugzeuge bekommen und dadurch werden wir einfach mehr Destinationen anbieten können, als wir es heute tun. Ob wir mehr in Europa fliegen, weiß ich nicht. Auch innerdeutsch wird sich noch mal verändern.
[MP] Ehrlicherweise würde ich auch gerne in die Glaskugel gucken, aber ich bin bei Magnus und kann mir vorstellen, dass wir mehr Destinationen im Portfolio haben werden und teilweise auch dadurch, dass wir eben kleinere Verkehrsströme direkt anbinden werden.
[AH] Martina Pichura, Magnus Abstoß, vielen Dank an Sie beide Netzplanung-Profis für die vielen Erläuterungen über das Streckennetz von Lufthansa gestern, heute und morgen. Jetzt habe ich noch einen spannenden Part, weil ich habe gedacht, ich bewundere Sie sehr dafür, also das nur nebenbei. Wie merken Sie sich eigentlich all die ganzen Abkürzungen für die Flughäfen?
[MP] Das kommt irgendwann automatisch. Das ist – also ist kein Vokabellernen, sondern das ist einfach – das kommt automatisch, oder?
[MA] Also es kommt automatisch. Bei mir ist es so ein bisschen, weil es mein Hobby ist, habe ich mich damit immer schon mit beschäftigt.
[AH] Und wo wäre Ihr nächstes Ziel in drei Buchstaben?
[MA] KIX?
[AH] JFK.
[AH] Das kenne ich – Ihrs nicht, Herr Abstoß.
[MA] Osaka.
[AH] Osaka. Ich wollte jetzt eigentlich – dachte, jetzt können wir da draußen sagen „Raten Sie einfach“ oder „Lesen Sie es nach“, bei mir reicht als Nächstes der BER. So, vielen Dank noch mal! Und Zukunft – ein gutes Stichwort. Denn am Ende von 100 Jahren Lufthansa und unserer zweiten Staffel von „Above and Beyond“ wollen wir das nächste Mal einen Blick in die kommenden 100 Jahre werfen. Wie werden wir künftig fliegen? Elektrisch, mit Frittenfett? Oder wird es vielleicht doch eher Wasserstoff und Brennstoffzelle? Und welche zukunftsweisenden Projekte verfolgt Lufthansa heute schon? Die Antworten gibt es in der kommenden Folge. Bis dahin!
[VO] Das war: Above and Beyond – der Podcast der Lufthansa Airlines. Mehr Einblicke in die Luftfahrt gibt es in der kommenden Folge. Und für alle, die nicht mehr so lange warten wollen: Folgt doch unserem Instagram-Kanal lufthansaviews. Alle Links findet ihr wie immer in den Shownotes.
Neuer Kommentar